Changeprojekt

– globalagierendes Familienunternehmen

von Tim Matsoukas, Vivien Marsch

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Praxisfall zum Leitprozess Vernetzung:
Die Teams sollen endlich zusammenarbeiten!

Anliegen des Kunden: Workshop zur besseren Zusammenarbeit

Der Divisionsleiter eines Automobilzulieferers hat vor einem Jahr zwei vormals autonome Abteilungen zusammengelegt. Beide Haupt-Abteilungen vermarkteten global dasselbe Produkt, welches das Unternehmen erfolgreich in hoher Qualität herstellt. Die Abteilungen unterschieden sich nur in der Art der Vermarktung und durch ihre Kunden. Während die eine Abteilung direkt an die Automobilhersteller vertrieb, verkaufte die andere Abteilung das Produkt auch an freie Werkstätten. Durch das Einrichten eines „shared service center“ sollen nun Synergien genutzt werden, Prozesse beschleunigt und das Knowhow flexibler genutzt werden. Im Vorfeld waren alle Führungskräfte mit diesem Plan einverstanden und erkannten seine Vorteile. Auch ein kaufmännisch versierter Teamleiter mit sehr guter Prozesskompetenz war schnell gefunden. Nach der Zusammenlegung der Abteilungen stellt sich jedoch heraus, dass der Teamleiter keine Akzeptanz findet und - mit wenigen Ausnahmen - vom gesamten Team geschnitten wird. Auch die zwei Haupt-Abteilungen harmonieren nicht als eine Einheit. Wie in der Vergangenheit wird alles mit den ehemaligen Führungskräften besprochen, sie treffen fast alle Entscheidungen, und die Prioritäten werden anders gesetzt als es der Teamleiter vorschlägt. Der gesamte Bereich ist frustriert; sowohl das Management als auch HR müssen immer wieder Konflikte moderieren.

Auftragsklärung

Der Divisionsleiter und die HR Business-Partner möchten einen Strategie-Workshop veranstalten, in dem erarbeitet wird, wie die Bereiche künftig besser zusammenwirken. Teil des Workshops soll auch eine Konfliktklärung sein, um die Zusammenarbeit mit dem Teamleiter zu verbessern und mögliche Gründe für die Ablehnung herauszufinden. Je mehr wir jedoch zuhören, desto unklarer erscheint uns das Problem und desto unwohler fühlen wir uns dabei, einen Auftrag zur Workshop-Moderation anzunehmen, ohne verstanden zu haben, welches Problem hinter dem Problem steckt. Die Erklärung, dass die ehemaligen Führungskräfte nicht loslassen wollen und der neue Teamleiter es nicht geschafft hat, sich zu positionieren, überzeugt uns nicht. Das Management glaubt, dass die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander hinderlich sind. Auch dies ist für uns nicht wirklich nachvollziehbar. Die Tatsache, dass die Führung über einen Zeitraum von rund neun Monaten das Geschehen beobachtet, ohne tatsächlich einzugreifen, irritiert uns zusätzlich. Wir empfinden Aussagen widersprüchlich („Mitarbeiter sind geeignet oder nicht geeignet“, „die neu festgelegten Prozesse müssen eingehalten werden, aber sie funktionieren nicht“ etc.). Es erscheint uns wenig hilfreich, die Meinung des Managements einfach zu übernehmen, weil wir damit Teil des Problems werden könnten, statt externe Beobachter zu bleiben.

Wir empfehlen deswegen als nächsten Schritt Einzelinterviews mit allen Beteiligten, um festzustellen, ob eine gemeinsame, in einem Workshop erarbeitete Strategie, im Arbeitsalltag wirklich etwas verändern kann. Auch möchten wir, dass jeder einzelne Mitarbeiter uns den Auftrag erteilt, die Situation aufzuhellen. Trotz großer Bedenken - er befürchtet Zeitverlust durch die Einzelinterviews und ist der Meinung, dass die von uns vorgeschlagene Analyse bereits durch ihn erfolgt ist - stimmt der Divisionsleiter diesem Vorgehen zu.

 

Beratungs-Verlauf

Wir planen in den Interviews genau hinzuhören, ob es sich wirklich um ein zwischenmenschliches Thema handelt oder ob nicht möglicherweise ganz andere Gründe für die offensichtlichen Widerstände gegen die neue Struktur vorliegen. Als erstes fällt auf, wie dankbar und froh alle Mitarbeiter und Führungskräfte sind, dass ihnen jemand Fragen stellt und ohne vorgefertigtes Wissen oder Vorerfahrung neugierig zuhört. Die Frustration ist groß, und alle leiden an der Situation. Die Interviews verlaufen offen, zum Teil sehr emotional, besonders betroffen sind alle, weil drei sehr erfahrene, besonders kompetente Kollegen die Abteilung verlassen haben, um im Konzern andere Aufgaben zu übernehmen.

Mit jedem Gespräch wird klar, dass der Teamleiter sehr wohl menschlich akzeptiert, ja sogar gemocht wird. Es geht gar nicht um ihn, sondern um die Aufgaben. Alle Mitarbeiter haben einen hohen Qualitätsanspruch und es gibt Arbeitsprozesse, die sich aus Fachwissen, Beziehungen zu Kunden und Lieferanten, Kenntnissen über verschiedene Produktanwendungen und daher verschiedene Kundenanforderungen organisch entwickelt haben. Die Mitarbeiter waren in der Vergangenheit sehr erfolgreich, identifizieren sich mit der jeweiligen Aufgabe und haben Angst, in der neuen Struktur ihren Erfolg nicht nachhaltig gewährleisten zu können.

Sie erklären uns, dass auch dann, wenn das gleiche Produkt verkauft wird, die Anforderungen an den Ablauf völlig anders sind, weil der jeweilige Kunde das Produkt ganz anders verwertet und daher andere Beratung braucht. Je nachdem was der Kunde mit der Ware vorhat, ändert sich in der Kundenorganisation der Prozess. Um den Kunden zufrieden zu stellen, müssen also die (alten) Prozeduren stabil bleiben, obwohl im eigenen Unternehmen die Strukturen geändert worden sind. Dies führt zu Frust und Protest, weil die Mitarbeiter es nicht mehr richtig machen können. Um dem Kunden (im Außen) gerecht zu werden, braucht es die eine Vorgehensweise, um die eigene Organisation innen zu bedienen, eine andere.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse gehen wir mit dem Management und HR die metatheoretischen Leitprozesse der Organisationsdynamik Schritt für Schritt durch (https://metatheorie-der-veraenderung). So erarbeitet sich auch das Management das Wissen, dass bestimmte interne Arbeitsschritte sehr eng mit den Arbeitsschritten beim Kunden verbunden sind. Die beschlossene Entkoppelung durch neue Entscheidungswege im Unternehmen wird so als dysfunktional erkannt. Das Management erschrickt darüber, wie es übersehen konnte, wie sehr dadurch bestehende Erfolge gefährdet wurden und sich Vorgänge verkompliziert, intransparent und wenig kundenorientiert entwickelt haben.

Beratungsergebnis

Der Divisionsleiter und der Führungskreis entscheiden gemeinsam, die Struktur wieder dem gelebten Prozess anzupassen und trotzdem beide Haupt-Abteilungen räumlich zu vereinen. Dadurch werden auf der sozialen Ebene Selbstorganisationskräfte frei, die mehr Zusammenarbeit ermöglichen. In der Mannschaft wird dies mit großer Erleichterung angenommen. Der Teamleiter bekommt eine komplementäre Sonderfunktion und ist in Zukunft auch im Rahmen von Digitalisierungs-Anforderungen für die Prozesssteuerung verantwortlich.

 

Theoretische Einordnung

Bei internen Reorganisationen von Abläufen und Prozessketten ist es unabdingbar, zu klären, was der Bezugspunkt ist, an dem sich Vernetzungsgestaltung ausrichten soll. In diesem Fall gab es hierzu in den unterschiedlichen Hierarchieebenen diametrale Auffassungen. Verschärft wurde dies dadurch, dass es keine funktionierenden Kommunikationswege zwischen diesen Ebenen gab. So bildeten sich zwangsläufig Symptome wie Demotivation, wechselseitige Abwertungen, Vertrauensverlust, Ohnmacht und Cliquen heraus. Die Beratung fokussierte nicht auf eine oberflächliche Kurierung der Symptome, sondern diagnostizierte zusammen mit der Organisation den dysfunktionalen Leitprozess Vernetzung als Kern des Problems.

 

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Disclaimer:

Um unsere Klienten und Kunden zu schützen und ihre Privatsphäre zu wahren, werden an dieser Stelle keine echten Namen verwendet und auf Bezeichnungen von Unternehmen und Branchen verzichtet. Der Fall ist jedoch real und hat sich so zugespielt.

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Leitprozess Vernetzung:

 

Der Prozess des Organisierens (= Organisation) muss seine Vernetzungsdichte regulieren. Daher müssen ständig Entscheidungen getroffen werden, die regeln, ob die Vernetzung erhöht oder verringert wird.

 

Die Leitfrage ist:

„Wollen wir mit der Entscheidung andere Entscheidungen verknüpfen oder entkoppeln?“ Es geht also darum, was worauf aufbaut, wer mit wem reden muss, was autonom bearbeitet werden kann und welche Rückkopplungsprozesse mit anderen Leistungserbringern der Organisation verbindlich sein sollen. Komplexe Organisationen brauchen immer auch die Veränderung ihrer Vernetzung, nicht nur eine Verbesserung von Einzelaspekten, wenn sie sich verändern sollen!

Das häufige Lavieren zwischen zentralen und dezentralen Organisationskonzepten zeugt von der Bedeutung dieses Leitprozesses. Wie bei allen Leitprozessen kann die Organisation im Hinblick auf die Entscheidungspole sowohl zu stark als auch zu schwach vernetzt sein oder ungünstig zwischen den beiden Polen oszillieren. Gerade letzteres ist ein Hinweis darauf, wie schwierig es ist, die passende Antwort auf die Verhältnisse zu finden. Einmal gewährte Autonomie von Organisationsteilen wird ebenso ungern aufgegeben wie einmal gewährter Einfluss. Darum sind Vernetzungsmuster häufig so stabil und können oft nur durch massive Reorganisationen unterbrochen werden.

Wer darf wem bei der Arbeit hineinreden, Randbedingungen verändern, Erfolgsfaktoren definieren? Wo entsteht der (nötige) Überblick? Wieviel Vernetzung kann sich die Organisation zeitlich, sozial und sachlich leisten, ohne dass die erzeugte Komplexität zur Überforderung wird? Was wird zentral, was dezentral entschieden? Worüber ist mit wem wann Rücksprache zu halten? Weil all diese Fragen auch immer sehr standpunktabhängig sind, entstehen an diesem Leitprozess viele organisationale Konflikte und Dysfunktionalitäten. 

Tim Matsoukas